Geriatrie bedeutet „Altersmedizin“. Was unterscheidet sie von anderen Abteilungen im Krankenhaus?
In der Altersmedizin werden Patienten im Alter ab 70 Jahren behandelt. Oft leiden die Menschen an mehreren Erkrankungen. Wir arbeiten also weniger auf ein Organ bezogen, haben es häufig mit komplexen Krankheits- und Beschwerdebildern zu tun.
Was die Geriatrie auszeichnet, ist vor allem die Teamarbeit. Mit mehreren Professionen, unterschiedlichen Ansätzen und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus den Patienten zu betrachten und zu behandeln – das macht es unheimlich spannend.
Wie sind Sie zur Geriatrie gekommen?
Durch unseren damaligen Geschäftsführer. Er fragte mich, ob ich mir die Arbeit in der Geriatrie vorstellen könnte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich mit dem Fachgebiet noch nicht näher beschäftigt. Über eine Hospitation in Borken bei Herrn Professor Dr. Wirth, dem damaligen Klinikleiter, wurde dann meine Begeisterung für die Geriatrie geweckt.
Was hat denn Ihre Begeisterung geweckt?
Neben dem sehr breiten Spektrum an Erkrankungen die Teamarbeit. Gemeinsam auf den Patienten zu schauen, in welchem Umfeld lebt er, was hat er für Ziele und diese gemeinsam – im therapeutischen Team mit dem Patienten – zu verfolgen. Ziele nach einer Krankheitsphase können ganz unterschiedlich sein. Der eine sagt: Ich möchte wieder selbstständig einkaufen gehen können. Der andere möchte „nur“ wieder aufstehen können. Es sind also ganz unterschiedliche Ansprüche, die zur Therapie motivieren. Dieses ganz Individuelle, auf den Patienten fokussierte – das finde ich klasse. Und noch einmal: die Team-Arbeit. Ich bin ein Teamplayer und als Teil eines therapeutischen Teams kann ich von anderen lernen, wie in keinem anderen Fachgebiet.
Gibt es typische Erkrankungen, mit denen Menschen zu Ihnen kommen?
Das ist die ganze Bandbreite internistischer Erkrankungen im Alter: Herz- und Lungenerkrankungen, Erkrankungen der Bauchorgane, neurologische Erkrankungen im Alter, aber auch Weiterbehandlungen nach Stürzen mit Knochenbrüchen, die operativ versorgt worden sind. Außerdem Patienten, deren Gangbild sich verschlechtert, die immer wieder stürzen und daraus eine Angst entwickeln, sich weiter zu bewegen. Sturzangst ist im Alter ein großes Thema – eine böse Erfahrung, weil die Möglichkeit, einen Sturz abzufangen, schlechter wird. Wir arbeiten gemeinsam daran, dass die Voraussetzungen, wieder sicherer stehen und gehen zu können, besser werden.
Das heißt, Sie arbeiten nicht nur für die Heilung, sondern auch daran, wie ein Sturz vermieden werden kann?
Ja, genau. Und wie man wieder selbstständiger werden kann. Wir haben Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Logopäden, Psychologen im Team. Alle gucken aus ihrer Perspektive und entwickeln mit dem Patienten Strategien, wie Hilfsmittel im Alltag eingesetzt werden können. Wir versuchen, den Menschen das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zurückzugeben. Nicht den Fokus auf das zu legen, was nicht mehr möglich ist, sondern die noch vorhandenen Fähigkeiten zu stärken und im Alltag zu nutzen. Es macht einfach Spaß, Geriatrie ist toll!
Gibt es typische Krankheitsbilder bei an Demenz erkrankten Menschen?
Somatisch unterscheiden sich die Krankheitsbilder nicht unbedingt. Aber die Demenz macht die Weiterbehandlung und das Erreichen der vorherigen Lebensqualität schwieriger. Auch die fremde Situation im Krankenhaus ist für einen Menschen mit Demenz oft eine große Herausforderung. Diese Patienten haben zudem ein deutlich höheres Risiko, ein sogenanntes Delir, also einen akuten, unter Umständen lebensbedrohlichen Verwirrtheitszustand, zu erleiden.
Die Behandlung eines an Demenz erkrankten Menschen hängt natürlich wesentlich mit der Ausprägung der Einschränkungen zusammen. Bei Patienten mit fortgeschrittenen Einschränkungen arbeiten wir mit der Biografie des Menschen, beziehen die Angehörigen mit ein und arbeiten z. B. mit Orientierungshilfen oder technischen Hilfsmitteln wie Klingel- und Sturzmatten, Niederflurbetten, Nesteldecken. Also Methoden, wie sie auch in den Pflegeeinrichtungen eingesetzt werden.
Es ist zum Beispiel für einen Demenz-Patienten schwer zu verstehen, warum sein Bein nach einem Knochenbruch weh tut. Er muss immer wieder daran erinnert werden: es gibt einen Grund dafür, dass das Bein weh tut. Er wird es vielleicht nicht verstehen, oder nur für den Moment und nicht behalten. Er kann die Information, dass der Knochen wieder heilt und die Situation in vier oder fünf Wochen wieder besser ist, nicht einordnen. Diesen Patienten müssen sie trotzdem zur Therapie motivieren.
Vermutlich auch mehr Personal?
(lacht) Das wäre schön. Es ist schon so, dass wir in der Geriatrie einen Stellenschlüssel haben, der die Patientenunterstützung berücksichtigt. Aber es gibt Phasen, da betreuen wir zehn, vielleicht auch zwölf Patienten, die Essensbegleitung brauchen, die Sturzprophylaxe brauchen, die eine Hinlauftendenz zeigen. Diese Patienten tragen dann ein akustisches Rückmeldesystem (ähnlich einer Armbanduhr), das uns einen Hinweis gibt, wenn der Patient die Station verlässt. Dann läuft jemand hinterher.
Ohne dieses Rückmeldesystem könnten wir Patienten mit Hinlauftendenz nicht betreuen. Denn, egal wie eingeschränkt jemand ist, sie dürfen niemandem die Freiheit nehmen und ihn ohne Weiteres fixieren. Das, was der Demenz-Kranke bis zuletzt behält, ist die emotionale Ebene. Und wer lässt sich gerne anbinden? Da zeigt sich, was Geriatrie ausmacht: Sie brauchen bei jedem Patienten eine Idee, wie Sie mit ihm umgehen. Der eine lässt sich über die Biografie erreichen, der andere über Musik und Worte und manchmal brauchen sie auch Medikamente.
Nimmt die Zahl demenziell erkrankter Patienten zu?
Das ist tatsächlich so. Zum einen wird die Diagnose häufiger gestellt. Menschen mit einer Einschränkung gehen selbst los und möchten wissen, was dahintersteckt. Angehörige bemerken, dass sich etwas verändert und sprechen es an. Es ist aber auch so, dass die Gesamtzahl der Demenzkranken zunimmt. Sie haben mit höherem Alter eine höhere Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken. Und die Menschen werden älter. Bei über 90-Jährigen ist fast die Hälfte betroffen – wenn auch unterschiedlich ausgeprägt.
Man hört oft: Das ist keine Demenz, das ist nur Tüddeligkeit. Ist das Schönreden?
Es gibt sicherlich das Schönreden, den Versuch, die Diagnose Demenz zu vermeiden. Aber wenn jemand als „tüddelig“ empfunden wird, hat sich ja etwas in der Wahrnehmung dieses Menschen verändert. Wir können Tests, sogenannte Assessments durchführen und diese Veränderungen objektivieren. Manchmal sind dann weitere Testungen oder Untersuchungen erforderlich.
„Die Demenz“ ist nicht eine Erkrankung, deswegen sprechen wir auch heute eher vom Demenzsyndrom. Die meisten Menschen assoziieren mit dem Begriff die Demenz vom Alzheimer-Typ, heute auch Alzheimerkrankheit genannt. Aber es gibt auch Demenzsyndrome als Folge von Durchblutungsstörungen, von Abbauprozessen im Gehirn, als Folge neurologischer Erkrankungen oder als gemischte Formen. Allen gemeinsam ist, dass die Betroffenen Hirnleistungen verlieren, die sie im Laufe ihres Lebens einmal erworben haben.
Das ist aber nicht das, was man im Volksmund „verkalkt“ nennt?
Nein. Verkalkung ist ein Problem der Durchblutung, da geht es um die Gefäße. Durchblutungsstörungen können eine Ursache für Demenz sein, aber eben nicht bei allen. Bei Alzheimer-Patienten zum Beispiel sind es die Nervenzellen, die krank werden, nicht die Arterien.
Kann man vorbeugen?
Auf den Verlauf bezogen, gibt es für die Alzheimerkrankheit Medikamente, die zumindest das Fortschreiten der Erkrankung verzögern können. Heilen können wir bislang keine Form der Demenz. Aber für alle Betroffenen gilt, dass Bewegung und soziale Teilhabe wichtig sind.
Also kurz gesagt: Kommunikation und Interaktion sind lebenswichtig?
Ganz genau. Es gibt eine sehr eindrucksvolle Studie an französischen Ordensschwestern, die ihr Gehirn für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt hatte. Bei einer 104-Jährigen hatte der Pathologe schwere Veränderungen im Sinne einer Alzheimerkrankheit festgestellt. Diese Ordensschwester war aber nie mit Symptomen einer Demenz aufgefallen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass gute Sozialisation, eine feste Tagesstruktur und Teilhabe Einfluss auf den Verlauf einer Demenz haben können.
Das ist unter Corona sicher doppelt schwer?
Wohl auch dreifach. Corona war und ist für Menschen mit Demenz ein ganz großes Problem. Durch die Pandemievorgaben sind plötzlich feste Tagesstrukturen aufgebrochen worden und Angebote weggefallen. Das hat dazu geführt, dass schon bestehende Demenzsyndrome sich verschlechtert haben und manche Patienten auch in einen akuten Verwirrtheitszustand geraten sind.
Das haben wir auch in unserer Klinik gesehen. Angebote, wie gemeinsames Frühstück, Hockergymnastik oder Betreuung durch Ehrenamtliche waren nicht mehr möglich. Die Patienten durften sich nicht mehr gemeinsam im Tagesraum aufhalten, der Austausch fehlte, die Bindung an die Angehörigen wurde schlechter.
Bei schwer betroffenen Menschen, bei denen die familiäre Anbindung therapeutisch erforderlich war, haben wir – unter Beachtung strenger Hygienemaßnahmen – Besuche ermöglicht.
Gibt es auch Patienten, denen Sie nicht helfen können?
Ich hatte eingangs beschrieben, dass wir in der Geriatrie mit dem Patienten ein gemeinsames Behandlungsziel festlegen. Bei Patienten mit einem weit fortgeschrittenen Demenzsyndrom ist dies nur eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich. In diesem Fall wird „nur“ die akute Erkrankung (z. B. eine Lungenentzündung) behandelt.
Es gibt an Demenz erkrankte Patienten, die schwere Auffälligkeiten im Verhalten zeigen oder entwickeln. Wir sprechen von herausforderndem Verhalten. Wenn dies zur Eigengefährdung des Patienten oder unserer Mitarbeiter führt, geben wir die Behandlung an spezielle Fachabteilungen (Psychiatrien oder Gerontopsychiatrien) ab.
Viele Patienten kommen aus einer Pflegesituation und werden in eine solche entlassen. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Einrichtungen des Pflegenetz Westmünsterland?
Wenn wir Patienten aus Pflegeeinrichtungen übernehmen, bekommen wir einen sehr ausführlichen Informationsbogen. Das finde ich total klasse. Auch der Austausch zwischen unseren Pflegekräften / Therapeuten und Mitarbeitern der Pflegeeinrichtungen ist unkompliziert möglich. Bei der Entlassung geben wir einen Arztbrief mit Medikationsplan und Überleitungsbogen in die Einrichtungem. Wenn jemand in die Kurzzeitpflege entlassen werden muss, der vorher im häuslichen Umfeld gelebt hat, nehmen Mitarbeiterinnen der Pflegeüberleitung Kontakt zu den Einrichtungen auf. Ich erlebe das immer als sehr wertschätzendes und unkompliziertes Miteinander.
Hat sich mit der Einrichtung der stationären Kurzzeitpflege in Vreden etwas verändert?
Die Suche nach Kurzzeitpflegeplätzen ist für den Sozialen Dienst deutlich entspannter geworden. Das war die richtige Entscheidung, dieses Angebot aufrecht zu halten. Wir bekommen sehr positive Rückmeldungen von Bewohnern der Einrichtung.
Gibt es denn etwas, was man noch besser machen könnte?
Ich – und da darf ich sicher auch für die Mitarbeiter des Teams sprechen – empfinde das Miteinander zwischen Krankenhaus und Pflegenetz innerhalb des Klinikums als sehr gut und wertschätzend.
Es wäre schön, wenn wir noch mehr Angebote für Menschen mit Demenz machen könnten, z. B. Wohngruppen. Da erlebe ich das Angebot noch als sehr begrenzt. Wir brauchen Strukturen, die das leisten können, was früher in den Familien stattfand. Die Einbindung von Menschen mit Demenz in den Alltag, um ihnen Strukturen zu geben und das Gefühl, noch Aufgaben zu haben.
Sie meinen, wie beim Hausgemeinschaftskonzept in den Einrichtungen des Pflegenetzes?
Ja, genau. Die Bewohner haben ihren Rückzugsort, ihren persönlichen Bereich. Aber ansonsten leben sie in der Gemeinschaft und profitieren vom Miteinander. Ich finde das toll. Es ist ein gutes Konzept.
Auch für den Menschen mit Demenzsyndrom ist das Erleben von Gemeinschaft, von Wertschätzung und Miteinander – wie für uns alle – eine ganz wesentliche Voraussetzung für Lebensqualität.
Viele fürchten sich vor Demenz. Gibt es Hoffnung, dass sie eines Tages geheilt werden könnte?
(lacht) Hoffnung gibt es immer! Gerade im Bereich Alzheimerkrankheit wird sehr viel geforscht. Es gibt gute Ansätze, die aber noch weiterentwickelt werden müssen. Aktuell ist es möglich, den Krankheitsverlauf mit Medikamenten für einen gewissen Zeitraum zu stabilisieren.
Ein Ziel der Forschung ist, dass die Krankheit später einsetzt und weniger Menschen an Alzheimer erkranken. Wenn sie mit 80 an Alzheimer erkranken und 90 Jahre alt werden, haben sie vielleicht die letzten fünf Jahre Ihres Lebens eine schlechte Lebensqualität oder sind nicht mehr in der Lage, selbstbestimmt zu leben. Wenn Sie das nach hinten schieben können, ist die Zeit des selbstbestimmten Lebens länger.
Das sind Dinge, die uns auf jeden Fall hoffen lassen.